Aktivregion Rennsteig im Thüringer Wald

Der Dichter, der auf einen Gipfel stieg und verschwand

Prädikatsweg: Goethewanderweg

Für eine Weile abtauchen, neue Kraft schöpfen. Das tat Goethe am liebsten im Thüringer Wald, genauer gesagt, rings um Ilmenau – einer Landschaft mit bewaldeten Gipfeln und imposanten Felsformationen. Auf dem Goethewanderweg wird jedenfalls schnell klar, warum der Promi-Dichter diese Gegend so vergötterte: Die Ausblicke vom Kickelhahn und Großen Hermannstein sind ein Traum, das Finstere Loch gleicht eher einem Fenster zum Urwald und die blühenden Bergwiesen sind eine Wucht. Wer Wandern auf urigen Pfaden bevorzugt, wird diesen Weg lieben.

„Aller Anfang ist leicht…“

… schrieb Goethe in seinem 1821 erschienen Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, der wohl persönlichsten aller Goethe’schen Dichtungen. Wie recht er damit hat: Angekommen in Ilmenau, der Universitätsstadt am Rande des Thüringer Waldes, ist man vom Bahnhof in wenigen Gehminuten am Markt mit dem GoetheStadtMuseum. Wer mag, kann sich hier auf den Wanderweg einstimmen – mit Geschichten über Goethe als Dichter, Staatsbeamten und Naturforscher. Man erfährt von seinen Streifzügen durch die Ilmenauer Natur, die ihn zu Poesie und Forschung anregten und kann im historischen Wohnraum – hier wohnte und arbeitete Goethe während seiner Aufenthalte – die Wohnatmosphäre jener Epoche nachempfinden. Vor dem Museum sitzt der ehrwürdige Geheimrat, vornehm mit übereinander geschlagenen Beinen, in Lebensgröße auf einer Bank. Die Bronzeskulptur lädt geradezu ein, neben ihr Platz zu nehmen und das Handy für ein Selfie zu zücken. Gesagt, getan! Spätestens jetzt sollte ich mich aber sputen – es warten reichlich Kilometer darauf, erwandert zu werden – genauer gesagt, 20 an der Zahl. Die ersten Schritte des Weges führen mich zum Hauptfriedhof Ilmenaus, einer parkähnlichen Anlage mit historisch wertvollen Grabdenkmälern samt Goethebrunnen. Von hier aus geht’s weiter an den Rand der Stadt mit hübschen Ausblicken auf Dächer und Kirchtürme. An einem Gartenzaun begegne ich zwei Ilmenauern, die gerade ein Schwätzchen halten. Sie grüßen freundlich und machen ganz den Eindruck, dass sie das Bild von ambitionierten Wanderern mit Rucksack und Trekkingschuhen gewohnt sind. Kein Wunder, denn der Goethewanderweg ist nicht irgendein Weg, sondern ein Prädikatsweg des Deutschen Wanderverbandes.

„Ach, Natur, wie sicher und groß in allem erscheinst du!“  

(J. W. von Goethe)

Goethes große Leidenschaft galt der Natur – wie ein roter Faden zieht sie sich durch sein Leben und seine Werke. Mal betrachtete er sie philosophisch, mal wissenschaftlich. Nachdem die letzten Häuser der Stadt hinter mir liegen, stehe ich vor einem herrlichen Mischwald aus hohen Buchen, Ahorn- und Lindenbäumen. Der Wanderweg verläuft hier entlang des „Mittleren Berggrabenwegs“. Die Berggrabenwege rings um Ilmenau erinnern an die Blütezeit des Bergbaus, über den schon Goethe zu sagen wusste: „Ist ja in den Bergwerken auch nicht alles lauteres Metall, und man muss, um sich Raum zu machen, mitunter taubes Gestein ans Tageslicht bringen“. Ein ganzes Netz aus Gräben und Teichen wurde damals für die Wasserhaltung in den Bergwerken angelegt – eine technische Meisterleistung. Als Wanderer genießt man heute die wunderbare Waldnatur: Ich begegne wertvollem Altbaumbestand, der zarte Duft von Lindenblüten liegt in der Luft, Vögel zwitschern um die Wette. Danach geht’s auf dem „Oberen Berggrabenweg“ weiter, einem mit Blaubeersträuchern üppig gesäumten Wegabschnitt. Ein älteres Pärchen zupft genüsslich im niedrigen Buschwerk. Gute Idee, denke ich, und gönne mir einen Wildbeerensnack – dabei werfen wir uns verschmitzte Blicke und eine Daumen-nach-oben-Geste zu. Während ich auf einer Blaubeere kaue, frage ich mich, ob dies auch Goethes Wegzehrung war? Eine letzte dunkelblaue Köstlichkeit landet im Gaumen, dann geht‘s weiter bergan. Der Weg wird nun zu dem, wofür ihn viele schätzen: Ein uriger Pfad, gesäumt von Felsen und schattenspendenden Bäumen.

„Was ich nicht erlernt habe, das habe ich erwandert.“ 

(J. W. von Goethe)

Goethes Wissbegierde war enorm. Vieles konnte er sich in Büchern erlesen, in Expertengesprächen und Reisen vertiefen. Das Wandern hatte für ihn jedoch zeitlebens eine besondere Bedeutung – es war mehr viel als nur Freizeitgestaltung: Goethe betrieb zahlreiche naturkundliche Studien; er ließ sich, und dies insbesondere um Ilmenau, zu erfolgreichen Dichtungen inspirieren. Was er nicht erlernte, erwanderte er sich eben. So lasse ich mich in Goethe‘scher Manier treiben: Der immer schmaler werdende Weg verläuft nun steil bergan. Ich stapfe über Steine, Kiefernzapfen und Wurzelgeflecht. Zwischendurch ist Zeit für eine Verschnaufpause, in der mir Max aus Berlin begegnet. Max ist auf dem Rennsteig unterwegs, von Hörschel ging es bis zur Neuen Gehlberger Hütte – dann hat es ihn plötzlich zum Goethewanderweg hingezogen. Über Stützerbach möchte er weiter bis Ilmenau, von hier aus mit dem Zug zurück in die Hauptstadt. Was ihn zu dieser Wandertour bewogen hat, möchte ich wissen: „Es ist meine zweite Mehrtagestour nach dem Malerweg in der Sächsischen Schweiz. Meine Arbeit als Architekt ist sehr kopflastig. Bei dieser mehrtägigen Wanderung ging es mir in erster Linie darum, den Kopf frei zu kriegen. Hat geklappt“, sagt er lächelnd, und fährt fort: „Ich bevorzuge naturbelassene Wanderwege, von daher war die spontane Idee, den Goethewanderweg dranzuhängen, eine geniale Entscheidung“. Noch einige Worte werden ausgetauscht, dann verabschieden wir uns. Während es für Max hinunter ins Tal geht, heißt es für mich: weiter bergan über Stock und Stein. Ich lande an der Berthaquelle, die auf etwa 620 Metern Höhe liegt. Dass die Quelle 1854 gefasst wurde, ist einem Ilmenauer Stammgast zu verdanken: Fräulein Bertha Koch aus Weimar. Sie weilte oft und gern in Ilmenau, um in der beliebten Kaltwasserheilanstalt zu kuren. Nachdem ich Arme und Gesicht am kühlen Bertha-Quellwasser erfrischt habe, wandere ich weiter hinauf – über einen ganzen Teppich aus Wurzelwerk und kieseligem Geröll. 

„Alles ist gut, wie es aus den Händen der Natur kommt!“ 

(J. W. von Goethe)

Kein Wunder, dass Goethe diese Gegend so liebte – mehr als zwei Dutzend Male kam er hierher, auch zu diesem in mehrfacher Hinsicht bedeutenden Felsen: Der Schwalbenstein in rund 690 Metern Höhe ist nicht nur ein Flächennaturdenkmal, sondern er zählte zu den absoluten Lieblingsplätzen des Dichters. Er fand diese Stelle so inspirierend, dass er hier am 19. März 1779 den kompletten 4. Akt seines Bühnenwerkes „Iphigenie auf Tauris“ schrieb – wohlbemerkt, an einem einzigen Tag. Auf dem Porphyrfelsen thront heute eine Schutzhütte. Ich gönne mir eine kurze Pause, dann erwartet mich ein nächster Anstieg. Er führt zum Schöffenhaus im Steingrund, als urplötzlich dunkle Wolken aufziehen. Ich gebe Gas, um schnellen Schrittes zur nächsten Schutzhütte voranzukommen. Mein übergestülpter Regenponcho erweist sich als nützlich – noch bevor ich die Schutzhütte auf der Bornwiese erreiche, prasselt es von oben herab. Ein kurzer, heftiger Regenschauer zieht über Wald und Wiesen. Was für ein Spektakel: Die Luft riecht nach feuchter Erde, alles wird durchtränkt, die Natur erfrischt sich. Ruckzuck kämpft sich die Sonne zurück durch den Wolkenvorhang. Nebelschwaden steigen über den Wiesen auf, an den Gräsern und Blüten hängen glitzernde Regentropfen. – Ein perfekter Zeitpunkt für eine Mahlzeit, wie ich finde. Meine Stulle peppe ich kurzerhand mit frischem Bärwurz auf, dem Dill des Waldes. Das Panorama der artenreichen Bornwiese vor Augen, schmeckt es gleich noch mal so gut.

„Berge sind stille Meister und machen schweigsame Schüler“

(J. W. von Goethe)

… stellte Goethe seiner Zeit fest, und behält wieder einmal recht. Bevor ich den Ilmenauer Hausberg erreiche, geht es zunächst vorbei an der Marienquelle und dem Emmastein hinunter nach Manebach, einem staatlich anerkannten Erholungsort im UNESCO Biosphärenreservat Thüringer Wald. Unten im Ort entdecke ich eine Tafel an der Fassade des Kantorhauses – sie erinnert an die Aufenthalte Goethes und seine naturwissenschaftlichen Zeichnungen, die er hier im Garten anfertigte. Ab Manebach geht es erneut steil bergauf, immer wieder mit schönen Ausblicken ins Tal und mit weiteren beeindruckenden Felsen wie dem Großen Hermannstein. Die extrem schmale Leitertreppe hinauf auf das Aussichtsplateau ist eher für schwindelfreie Wanderfreunde geeignet, das Panorama lohnt sich jedoch! Im Felsen befindet sich eine künstlich ausgeschlagene Höhle, über die Goethe schrieb: „… mein geliebter Aufenthalt, wo ich möcht wohnen und bleiben“. Er fertigte Zeichnungen über die Felshöhle an und entführte seine enge Freundin Charlotte von Stein hierher. Übrigens ist diese Felsformation für Naturliebhaber ein Juwel: Der Große Hermannstein ist Geotop, Flächennatur- und Bodendenkmal zugleich. Mit beeindruckenden 119 Flechten- und Moosarten zählt er zu einem der artenreichsten Standorte dieser „Urpflanzen“ im Thüringer Wald. Während des anschließend herausfordernden Aufstiegs auf den Kickelhahn entdecke ich weitere dieser bizarren Pflanzenwesen, die mal wie Büschel von Ästen hängen, mal in filigranen Strukturen auf Baumrinden und Steinen erscheinen. Fast ist’s geschafft, die berühmte Jagdhütte blitzt schon zwischen den Bäumen hervor. Eine Gruppe Wanderer kommt mir entgegen und raunt aufmunternde Worte zu – ich scherze zurück, so viel Zeit muss sein. Oben angekommen, in 861 Metern Höhe, weht mir eine frische Brise entgegen. Schnurstracks steuere ich aufs Goethehäuschen zu. „Über allen Gipfeln ist Ruh...", schrieb Goethe an die Wand dieser kleinen Schutzhütte am 6. September 1780. Im Inneren lese ich die legendären Verse in 16 Sprachen. Draußen staune ich über den 24 Meter hohen Aussichtsturm, der bereits 1855 eingeweiht wurde und als einer der ältesten erhaltenen Aussichtstürme in Deutschland gilt. Auf dem Kickelhahn genießt man eine angenehme Stille – das nutze ich und gönne mir am Berggasthaus Kaffee und Kuchen. Der Blick schweift in die Ferne, über die endlosen Weiten des Thüringer Waldes… Und schon bin ich ein schweigsamer Schüler des stillen Meisters Kickelhahn, ganz wie Goethe es prophezeite.

„Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen.“ 

(J. W. von Goethe)

Zeit für den Abstieg: Vom Kickelhahn wandere ich hinab in Richtung Stützerbach und mache Bekanntschaft mit dem Jagdhaus Gabelbach, einem kleinen barocken Jagdschlösschen. Es wurde 1783 vom Weimarer Herzog Carl August errichtet und beheimatet ein Museum zu Goethes naturwissenschaftlichen Studien im Thüringer Wald. Vorbei an der Hirtenwiese gelange ich zur Ochsenwiese – einem wahren Idyll, gespickt mit Bärwurz und meinem persönlichen „Blüten-Highlight“ an diesem Tag: der gelbleuchtenden Arnika. Ab hier führt der Goethewanderweg durch das Schortetal. Namensgebend ist die Schorte, ein wildromantischer Nebenfluss der Ilm, an dessen Ufern moosbewachsene Steine wie Kunstwerke aufragen und man sich im Zickzack seinen Weg vorbei an großen Farnwedeln bahnt. Das frische Bergwasser der Schorte plätschert direkt nebenan und ist so einladend, dass ich prompt ein erfrischendes Kneipp-Fußbad nehme. Am Ende des Tals dann ein weiterer „Schatz am Platz“, der Knöpfelstaler Teich. Ich sehe Goethe vor mir am Ufer sitzend, wie er diese verwunschene Landschaftsszene mit halb ins Wasser ragenden Ästen auf Papier bannt. Der Teich wurde ursprünglich als Flößteich angelegt und fand schon 1587 schriftliche Erwähnung. Kurze Zeit später eröffnet sich mir ein Schaufenster zum Urwald: Das sogenannte „Finstere Loch“, eine kleine Felsenschlucht mit Wasserfall. Alles riecht frisch – nach Quellwasser, feuchtem Moos und Fichtennadeln. Beglückt von diesem Naturschauspiel wandert es sich gleich leichter. Stützerbach ist zum Greifen nah. Auf dem Weg dorthin staune ich nicht schlecht: Mitten auf dem Boden liegt eine große weiße (Schreib-)Feder – ein Gruß Goethes? Ich stecke sie mir an den Rucksack und wandere die letzten Kilometer über den Schlossberg hinab nach Stützerbach. Aber nicht, ohne vorher einen Stopp am traditionsreichen Waldgasthaus „Auerhahn“ einzulegen. Der Name des familiengeführten Wirtshauses bezieht sich auf den Auerhahn, der einst in dieser Gegend gejagt wurde. Zu den vielen prominenten Gästen zählt – wie kann es anders sein – auch Goethe. Vermutlich verweilte er an seinem letzten Geburtstag hier im Hause. Endpunkt der Wanderung ist das Goethemuseum in Stützerbach, es befindet sich im Haus des Glashüttenbesitzers Gundelach. Insgesamt dreizehn Mal weilte der Dichter hier. Das Wohn- und Arbeitszimmer macht ganz den Eindruck, als käme er gleich ein vierzehntes Mal. 

Alle Infos zum loswandern gibt's hier: