Ein Sprinter, zwei Welten.

Mit Marcel Kittel durch den Thüringer Wald

Die Legenden des Rennradsports werden zwar bei der Tour de France oder dem Giro d’Italia und vor den Augen der Weltpresse gekürt. Gemacht werden sie aber ganz woanders. Marcel Kittel, einer der besten Sprintspezialisten Deutschlands, zum Beispiel im Thüringer Wald. Hier hat sich der gebürtige Arnstädter bis zu seinem Karriereende im Jahr 2019 fit gemacht, hier genießt er Stunden auf dem Rad. Immer mehr Hobbysportler eifern dem Ex-Profi nach und entdecken das Mittelgebirge als Rennrad-Destination.

 

 

Wer die Augen schließt und an den Thüringer Wald denkt, dem kommen zuallererst die Wartburg in den Sinn. Oder eine Menge Wald – dichte Fichtenbestände und herrliche Lichtungen, saftige Wiesen und kühle Bergseen. Oder Wanderer mit vollgepackten Rucksäcken auf dem Rücken und Stöcken in den Händen, die in ein paar Tagen den Rennsteig ablaufen und sich an einer der vielen Raststationen eine originale Thüringer Rostbratwurst mit Senf gönnen. Oder Thüringer Klöße mit Roulade in einer versteckten Berggaststätte. Aber Rennradfahrer? Daran denkt der Kopf zugebenermaßen nicht sofort. Dabei hat die Region einem Sportler zur Weltkarriere verholfen: Sprintspezialist Marcel Kittel. 

Zu aktiven Zeiten – und jetzt, nach dem Karriereende, vielleicht sogar noch lieber – ist er auf extrem schmalen Reifen durch den Thüringer Wald gefahren. Freilich nicht auf den Forst- und Waldwegen, für deren Untergründe es spezielle Gravel- oder Mountainbikes gibt. Sondern auf den Straßen der Region und den gut ausgebauten Radwegen. Überall dort, wo die Strecken mit Asphalt statt mit Schotter belegt sind, wo kein Fels und keine Wurzel stören beim Abspulen von Kilometern, und wo man trotzdem mittendrin ist in der Natur. 

 

 

Gemütlich rollen lassen kann Marcel das Rad im Thüringer Wald aber bei Weitem nicht. Hier geht es immer auf und ab, auf und ab: Einem knackigen Anstieg, der selbst den Puls des durchtrainierten Ex-Profis ansteigen lässt, folgt eine Abfahrt in hoher Geschwindigkeit. Und nach nur wenigen Metern der Erholung muss er schon wieder kräftig in die Pedale getreten, um den nächsten Berg zu erklimmen, um sich nach Erreichen des Gipfels wieder schnittig in die Kurven bergab zu legen. Das kann, das soll anstrengend sein, und zeichnet den Thüringer Wald als ideales Trainingsgebiet aus. Für Amateure wie Profisportler, für Einheimische wie Touristen, die aus der gesamten Bundesrepublik in die Mitte Deutschlands kommen. 

Tipps vom Profi

Für sie hat Marcel einige Tipps parat. „Rund um Brotterode, um nur ein Beispiel zu nennen, kann man jede Menge Höhenmeter sammeln. Am Abend weiß man, was man getan hat“, sagt der Thüringer, der das Mittelgebirge dem Hochgebirge liebend gerne vorzieht. Zu einer seiner liebsten Rennrad-Touren zählt die Fahrt zum Großen Inselsberg, der mit einer Höhe von 916 Metern aus dem Thüringer Wald hinausragt. „An einem schönen und sonnigen Tag ist die Aussicht einfach nicht zu überbieten“, sagt er. Sie belohnt für die kräftezehrende Strecke nach oben und vor allem für die letzten Meter, die über Pflastersteine führen. 

Wie viele Trainingskilometer, wie viele Höhenmeter Marcel in Thüringen und dem Thüringen Wald abgespult hat, kann selbst er wohl nur grob schätzen. Seine Karriere hat er beim Radverein RSV Adler Arnstadt begonnen, zunächst auf dem Mountainbike, später auf dem Rennrad. „Meine Leidenschaft galt dem Rennrad. So richtig überraschend ist das nicht. Mein Vater war schon Rennradfahrer und ein ganz passabler Sprinter“, sagt er. 

 

 

Schnell schloss er sich einer Straßen-Trainingsgruppe in Arnstadt an, die alle möglichen Wege um die Stadt erkundeten. Mit den ersten Erfolgen – dem Gewinn des Thüringischen Landesmeistertitel, zum Beispiel – sind die Distanzen gewachsen. Marcel führte es immer öfter in den Thüringer Wald, nach Oberhof und die Umgebung, wo traditionell Wintersportler – Biathleten und Bobfahrer, Skeletoni und Skispringer, Rodler und Skilangläufer – gemacht werden und die bekannten Weltcups und Weltmeisterschaften ausgetragen werden. 

Etappensiege gefeiert

Als Teenager wechselte Marcel auf das Erfurter Sportgymnasium und wurde 2005 und 2006 Junioren-Weltmeister im Einzelzeitfahren. Auf dem Weg zum Profi heuerte er im Thüringer Energie Team an, konnte in seinem ersten U23-Jahr an der Thüringer Rundfahrt teilnehmen und entwickelte sich ob der vielen Erfahrungen immer weiter. Nach einer von Krankheit und Verletzungen geprägten Saison wechselte er in das Team Skil-Shimano und setzte mit 17 Siegen ein dickes Ausrufezeichen – als erfolgreichster Neoprofi in der Geschichte des Radsports. 

2012 erkämpfte er sich 13 Siege in UCI-Rennen und debütierte bei der prestigeträchtigen Tour de France. Nur ein Jahr später wurde er Sprintsieger auf der zweiten Etappe von Paris-Nizza im World-Tour Rennen, gewann den Massensprint die erste Etappe der 100. Tour de France in Bastia (Korsika) und trug als 14. Radsportler aus Deutschland das Gelbe Trikot. „Das war der größte Tag in meinem Leben“, sagt er bis heute. Mit drei weiteren Etappensiegen, darunter die Schlussetappe mit Ziel auf den Champs-Elysées in Paris, erfüllte er sich einen Traum, den er 2014 wiederholte, als er erneut in Gelb fuhr und sogar vier Etappen gewann. Diese umjubelten Siege, aber auch die Niederlagen, füllen die Kapitel in seinem Buch „Das Gespür für den Augenblick“, das seit September 2021 auf dem Markt ist.

 

 

Gemütliches Tempo

Ob er schon als Jugendlicher davon geträumt hat, als er im Thüringer Wald seine Runden drehte? Die Strecken in seiner Heimat kennt er noch heute in- und auswendig – obwohl der Thüringer so viele Kilometer auf der ganzen Welt abgespult hat. Thüringen trägt Marcel immer im Herzen. Und wenn er in der alten Heimat ist, steigt er gern auf das Rennrad. „Hier finde ich Ruhe und Ausgleich“, sagt er. Heute genießt er Stunden auf dem Rad sogar noch mehr: „Ich muss mich nicht mehr quälen, sondern kann in einem gemütlichen Tempo fahren.“

 

Eine Lieblings- und typische Trainingstour des ehemaligen Profis

 

Von Bach zu Goethe - von Marcels Heimatstadt Arnstadt nach Ilmenau

 

Von der Ilm zum Rennsteig läuft’s entspannt bergauf