Philosoph am Felsen

Bouldern im Thüringer Wald

Mit „BlocReich“ hat Thomas Hocke den wichtigsten Boulderführer Thüringens auf den Markt gebracht. Ohne Haken oder durch ein Seil abgesichert, nur mit der Kraft der Finger und der Armen erarbeitet er sich Zug um Zug eine Ideallinie an den vor tausenden Jahren geformten Felsformationen im Thüringer Wald. Es gilt: Der Boulder soll nicht bezwungen, sondern die Natur geschätzt werden.

 

 

Thomas Hocke schnallt das lilafarbene Crashpad auf seinen Rücken. Er hat frisches, noch lauwarmes Gebäck vom Bäcker darin verstaut, ein Getränk und seinen Boulderführer „BlocReich“, fast als wöllte ob er zu einer längeren Wanderung aufbrechen. Eine wirklich lange Strecke steht aber nicht bevor. Es sind nur ein paar wenige Schritte vom Glasbach-Parkplatz, im Dreieck zwischen Bad Liebenstein, Ruhla und Winterstein gelegen, bis zum Gerberstein, der einen Ausblick ins Werratal und die Rhön erlaubt, und von dort nur ein paar wenige Schritte bis zum ersten Felsen, den sich Thomas für heute vorgenommen hat. 

Als er am Boulder ankommt und das Crashpad ausbreitet, atmet er tief durch. Die Landesstraßen sind nicht weit entfernt ist, doch statt Motorengeräusche sind hier nur die Lieder der Vögel zu hören. Es ist ein verwunschener Platz, grün und von Moos übersäht, urig und verwunschen zugleich, die perfekte Kulisse für einen Märchenfilm. Oder eben einen Kletterer, der natürliche Bänke und Tische aus Stein vorfindet und Felsen mit kuriosen Namen wie Metzger oder Judas. „Schön hier, oder?“, fragt Thomas rhetorisch. 

 

 

Der Natur nahe sein, sie zu spüren, das ist dem Meininger wichtig. Das Bouldern bietet ihm die beste Möglichkeit dazu. Ohne künstliche Haken und ein absicherndes Seil erarbeitet er sich einen Weg quer über den Felsen oder steil nach oben, je nachdem, welche Startposition er wählt und wo die Natur vor tausenden Jahren Griffe eingebaut hat, die seinen Händen und Füßen Halt geben. „Es geht mir nicht darum, den Felsen zu bezwingen, sondern mit ihm zu arbeiten und eine gute Linie zu finden. Es geht nicht darum, dass der Mensch der Natur überlegen ist, sondern demütig mit ihr umgeht“, betont der Sportler. 

Der Fels als Mikrokosmos

Er war noch nicht einmal zehn Jahre alt, als ihn seine Eltern zum ersten Mal mit zum Klettern in den Thüringer Wald genommen haben. Seitdem haben es ihm die verschiedenen Gesteinsarten und die oft imposanten Felsformationen angetan, seitdem stellt er sich den Herausforderungen, die die Natur ganz allein, ohne Menschenhand, in Stein gemeißelt hat. „Jeder Fels ist ein kleiner Mikrokosmos, mit dem ich mir eine neue Welt erschließe. Ich kann ganz frei und kreativ sein, muss nach Kanten und Rissen Ausschau halten. Ich bekomme nicht gesagt, wie ich es machen soll, sondern probiere es selbst aus. Als ob eine Leinwand vor mir steht und ich ein Bild male“, sagt Thomas. 

Für den Meininger ist das Bouldern viel mehr als ein Trendsport, der es 2021 zum ersten Mal in das Programm der Olympischen Sommerspiele in Tokio geschafft hat. Es ist auch eine Lebensphilosophie. Im Wald, am Felsen kann der Sozialarbeiter von seinen Aufgaben im Leitungsteam eines Kinderheims abschalten; hier kann er neue Kraft für die Auftritte mit der Band Surturs Lohe sammeln, die er an der Gitarre unterstützt. „Man klettert ja nicht permanent, sondern legt sich auch mal auf die Matte, lauscht dem Klang und genießt die Ruhe. Das macht das Ganze aus.“

 

 

Für das Bouldern braucht es nicht nur Kraft in Fingern und Armen, sondern einerseits Beweglichkeit und andererseits Körperspannung, um die komplexen Bewegungen am Felsen ausführen zu können. Letztlich formt der Sport aber nicht nur den Körper, sondern auch den Geist und die Persönlichkeit. „Ich falle oft auf die Matte, viel öfter als dass ich oben ankomme. Man hat also viel mehr Misserfolg als Erfolg. Statt aufzugeben, lernt man, damit umzugehen und Lösungen zu finden“, sagt der 40-Jährige. 

Ein Sport für Jung und Alt

Am liebsten ist er in Gemeinschaft am Felsen. Mit seiner Frau, die er vor 20 Jahren durch das Klettern kennengelernt hat, mit Freunden und ab und an auch noch mit seinem Vater. „Der Fels ist für alle da. Jeder darf und kann klettern, es ist ein Sport für Jung und Alt und unheimlich sozial“, sagt Thomas. Tatsächlich bieten die gut erschlossenen Klettergebiete im Thüringer Wald reizvolle Routen sowohl für Neueinsteiger als auch für Profis, mit Schwierigkeitsgraden von 1 bis 11.

Wenn Thomas Hocke nicht am Felsen hängt, hält er Ausschau nach neuen Herausforderungen. „Das ist wie ein Jagdtrieb, wie eine Schatzsuche. Ich renne dann wie ein Angestochener durch den Wald“, sagt er und lacht. Obwohl in seinem Boulderführer bereits 14 Gebiete mit 1200 Bouldern aufgelistet sind, findet er immer wieder neue Felsen: „Ich bin selbst überrascht, wohin es mich schon überall gebracht hat.“

 

BlocReich

Der Boulderführer Thüringen von Thomas Hocke

 

Bevor er zurück zum Auto geht und sein Crashpad im Kofferraum verstaut, putzt er das Magnesia mit einem kleinen Besen aus dem Felsen. Das weiße Pulver hilft den Sportlern, die Hände trocken zu halten und gibt ihnen mehr Halt. Um die Poren des Gesteins aber nicht zu verstopfen – das besagt eine wichtige Boulder-Regel – sollte es nach dem Klettern wieder entfernt werden. Selbst das macht Thomas mit viel Leidenschaft. „Das ist auch ein bisschen Zeremonie“, sagt er.